Bloß nicht die Bodenhaftung verlieren
Neuer Mechanismus an der Universität Konstanz entdeckt zur Kontaktregulierung der Zellen mit dem Bindegewebe – Neue Möglichkeiten zur Behandlung von Entzündungsprozessen und Tumormetastasierung
Damit sich unsere Zellen zu Geweben und ganzen Organen zusammenschließen können, sind auf der einen Seite die extrazelluläre Matrix (EZM) und auf der anderen Seite die Integrine nötig. Wie menschliche Zellen das Loslösen von der EZM regulieren, ist eine bislang ungeklärte Frage. In der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Christof Hauck am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz konnte nun mit der Phosphatase PPM1F ein Schlüsselenzym identifiziert werden, welches das Lösen der Integrine von der EZM regelt. Die Ergebnisse sind in der Online-Ausgabe des Wissenschaftsjournals „Journal of Cell Biology“ https://doi.org/10.1083/jcb.202001057 nachzulesen.
Die EZM besteht vor allem aus einem Geflecht von Proteinfäden wie Kollagen und anderen fadenförmigen extrazellulären Proteinen. Um sich an diesem Geflecht festhalten zu können, besitzt fast jede Zelle des menschlichen Körpers Integrine. Integrine funktionieren wie kleine Karabiner-Haken, die an Kollagen oder anderen EZM-Proteinen einrasten und so der Zelle Halt geben – ein Vorgang, der innerhalb von Sekunden erfolgt und auf wenige Nanometer große Bereiche der Zelloberfläche begrenzt ist. Da aber viele Körperzellen nicht für immer an der gleichen Stelle bleiben, sondern sich in manchen Fällen sogar über weite Strecken gezielt fortbewegen – man denke beispielsweise an Immunzellen, die aus einem Lymphknoten an den Ort einer Hautabschürfung gelangen müssen –, hat sich die Natur mit den Integrinen etwas Besonderes einfallen lassen.
Wie ein Seemann in der Takelage eines Segelschiffs
Die Integrine können ein- und ausgeklappt werden: Im eingeklappten Zustand sind die Integrine funktionslos, nur im ausgeklappten Zustand können sie als Karabiner-Haken fungieren und die Zelle mit der EZM verbinden. So sind Zellen in der Lage, sehr gezielt am vorderen Ende neue Kontakte mit der EZM zu knüpfen und am hinteren Ende Kontaktpunkte aufzulösen, so dass sich Zellen in dem Proteingeflecht der extrazellulären Matrix mit Hilfe der Integrine wie ein Seemann in der Takelage eines Segelschiffs bewegen können.
Integrine sind aus zwei Teilen aufgebaut, der α- und der β-Untereinheit. Beide Untereinheiten durchspannen die Zellmembran, so dass ein kleiner Teil des Proteins im Zellinneren, der weitaus größere Teil jedoch, der eigentliche Karabiner, außerhalb der Zelle vorliegt. Bekannt war bereits seit längerem, dass das Ausklappen des Karabiners ausgehend von der β-Untereinheit gesteuert werden kann. In der Tat bindet zunächst ein Protein namens Talin an den intrazellulären Teil der β-Untereinheit und löst das Ausklappen und damit die Aktivierung des Karabiners aus.
Ohne Phosphorylierung bleibt der Karabiner-Haken eingeklappt
Wie Tanja Grimm und Nina Dierdorf, zwei Doktorandinnen der Konstanzer Graduiertenschule Chemische Biologie, nun herausfanden, wird dieser Vorgang dadurch ermöglicht, dass die β-Untereinheit durch eine kleine chemische Veränderung, eine sogenannte Phosphorylierung, für die Bindung von Talin vorbereitet wird. Diese Phosphorylierung wirkt wie ein Schalter: Nach der Phosphorylierung bindet Talin, und das Integrin wird ausgeklappt. Entfernt man die Phosphorylierung oder mutiert die entsprechende Stelle, so kann keine Bindung von Talin erfolgen, und der Karabiner-Haken bleibt eingeklappt. Damit verlieren die Zellen ihre „Bodenhaftung“.
Die beiden Doktorandinnen konnten nun erstmals zeigen, welches Enzym für die Entfernung der Phosphorylierung, die Dephosphorylierung der Integrin-β-Untereinheit, verantwortlich ist: Die Protein-Phosphatase PPM1F. Dieses Enzym kann die Phosphorylierung rückgängig machen und damit das Einklappen der Integrine auslösen. Der von PPM1F regulierte „Phosphorylierungs-Schalter“ im Integrin scheint lebenswichtig zu sein, denn ohne PPM1F kommt es bereits während der Embryonalentwicklung, wenn sich verschiedene Zelltypen zu funktionierenden Geweben anordnen müssen, zu schweren Störungen. Isolierte Zellen, bei denen das PPM1F-Gen im Experiment funktionslos gemacht wurde, zeigen eine stark erhöhte Bindung an die extrazelluläre Matrix und können sich, da sie einmal gebildete Matrixkontakte kaum wieder lösen, nur sehr eingeschränkt fortbewegen.
Weniger Bodenhaftung mitverantwortlich für Metastasenbildung?
Die Forscherinnen und Forscher hoffen nun, dass sich dieses Wissen in Zukunft ausnutzen lässt, um die Aktivität von PPM1F und damit die Funktionalität von Integrinen gezielt zu steuern. In manchen Tumorzellen scheint diese Phosphatase besonders häufig, und die sich daraus ergebende verringerte Bodenhaftung solcher Tumorzellen könnte mit dafür verantwortlich sein, dass sie besonders leicht aus dem Primärtumor ausbrechen und an anderen Stellen im Körper Metastasen bilden können.
„Im nächsten Schritt möchten wir lernen, den von uns identifizierten Phosphorylierungs-Schalter und damit die Funktion von Integrinen gezielt bedienen zu können“, sagt Tanja Grimm, die Erstautorin der Studie. „Damit wäre es denkbar, Integrin-abhängige Prozesse in unserem Körper, von der Immunzellbewegung bis hin zur Tumormetastasierung, gezielt zu beeinflussen. So könnten diese neuen Erkenntnisse der Grundlagenforschung dazu beitragen, dass wir in Zukunft unseren Zellen dabei helfen, nicht die Bodenhaftung zu verlieren.“
Faktenüberblick:
- Originalpublikation: Grimm, T.M., Dierdorf, N.I., Betz, K., Paone, C., Hauck, C.R. (2020): PPM1F controls integrin activity via a conserved phospho-switch, Journal of Cell Biology (2020) 219 (12): e202001057; Online publiziert am 29. November 2020. doi: https://doi.org/10.1083/jcb.202001057
- Das Team von Prof. Dr. Christof Hauck, Professur für Zellbiologie am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz, hat neue Details zur Regulation der Zellhaftung und der Zellmigration aufgeklärt
- Beim Auflösen von Integrin-vermittelten Kontakten, welche die menschlichen Zellen mit der extrazellulären Matrix verbinden, kommt der Phosphatase PPM1F eine Schlüsselrolle zu
- Die Forschungsarbeiten fanden im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 969 „Chemische und biologische Prinzipien der zellulären Proteostase“ statt, der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird
- Tanja Grimm und Nina Dierdorf, die beiden Erstautorinnen der Studie, waren Stipendiatinnen der Konstanz Research School Chemical Biology (KoRS-CB).